KinderRächtsZeitung Regenbogen
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Ausgabe 21

Editorial
Noch einmal Nicaragua
Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen [Buchrezension]
Einmal Rupert und zurück [4. Fortsetzung von "Per Anhalter durch die Galaxis"]
Im Internet gut gefunden: Antipädagogik
Die Chemiestunde [Gedicht]
Das Recht, von zu Hause auszuziehen
Kommentar: Ziel verfehlt
Gleichberechtigung in der Familie
Schulgesetz [macht dachte es wäre anders...]
Durch einen Spiegel in einem dunklen Wort [Buchrezension]
"Vom Fehlen der Fehler"
Pressemitteilung Chemiefall: OVG lehnt Berufung ab
KRÄTZÄ ist umgezogen
Verfassungsfeindlich zum Wahlgang Teil 2
SLAPSTICK '68 - Benno-Ohnesorg-Kongreß
An-, Ab- und Aussichten [kurze Kommentare zu kinderrechtlichen/politischen Themen]
Nicotapias Kolumne
K.R.Ä.T.Z.Ä.-Aktionen
Musike fom veinsten
"Die Schule - Ein Frevel an der Jugend"
Informationen für Minderjährige

Cover Ausgabe 21
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Gleichberechtigung in der Familie

Erfahrungen, Überlegungen und Schwierigkeiten beim Verzicht auf Erziehung

Als Mutter von 2 Kindern (17 und 15 Jahre alt), die seit Jahren in der Kinderrechtsbewegung aktiv sind und die Gleichberechtigung für Kinder fordern, möchte ich mitteilen, was das für mich bedeutet.

Die Idee der Gleichberechtigung zwischen Kindern und Erwachsenen hat  in den letzten Jahren durch die Überzeugungskraft meiner Kinder und die Lektüre bestimmter Autoren (besonders E.v.Braunmühl) in meinem Denken mehr und mehr Raum eingenomnmen. Es ist aber immer noch ein Prozeß. Manche neue Situation kann wieder die Angst hervorrufen, daß die Verantwortung, die meine Kinder tragen müssen, zu schwer ist. Schließlich sind aus mangelnder Lebenserfahrung manche Gefahren von ihnen gar nicht abzuschätzen, erfahrungsgemäß ist die Risikobereitschaft bei jungen Menschen hoch, etc. So fühle ich mich also nicht immer gelassen und zuversichtlich. Grundsätzlich wird die Gleichberechtigung von mir aber nicht mehr in Frage gestellt.
Bei meinen Überlegungen und Handlungen gibt es ein relativ einfaches Mittel, um festzustellen, auf welcher Schiene ich bin, auf der anordnenden, pädagogischen oder auf der gleichberechtigten Ebene. Ich frage mich (oder lasse mich fragen), ob ich so mit meiner Freundin umgehen würde.
Auch das Modell der Kreise von EvB ist ein gutes Überprüfungsmittel: Jeder Mensch hat einen Kreis um sich, in dem sich die Intimsphäre und die eigenen Angelegenheiten befinden. Keiner hat das Recht, in den Kreis des Anderen ohne ausdrückliche Genehmigung einzudringen. Jeder hat das Recht, den eigenen Kreis zu verteidigen, zu vergrößern oder auch durchlässig zu machen. Z.B. ist es nicht erlaubt, die Vergrößerung des eigenen Kreises mit der Forderung zu verknüpfen, der Andere müsse seinen Kreis auch vergrößern ("Ich mache so viel für Dich, jetzt mußt Du aber auch..."). Nun sagen aber viele Erwachsene: "Man muß doch den Kindern Grenzen setzen." Nach diesem Modell kann man aber immer nur einen Kreis um sich selbst ziehen, nie einen um den anderen Menschen. Grenzsetzungen sind nur zur Verteidigung der eigenen Grenzen erlaubt.
Jeden Tag kann man beobachten, wie Menschen, die vorgeben, ihre Kinder zu lieben, mit ihnen umgehen. Da fällt ein Kind hin, schlägt sich das Knie auf, wahrscheinlich geht der Strumpf auch noch kaputt. Statt zu trösten, meckert der "liebende" Erwachsene das weinende Kind auch noch an. Ein Kind geht im Kaufhausrummel verloren. Statt sich zu freuen, daß es wieder da ist, macht der Erwachsene Vorwürfe. Oder: Ein Kind kommt mit einem schlechten Zeugnis nach Hause. Würden die Eltern, die ihr Kind deshalb fertigmachen, ihrem Freund, der von seinem Arbeitgeber schlecht beurteilt wird, auch noch zusätzlich Vorwürfe machen? Oder würden sie ihn trösten und fragen, ob sie helfen können?
Ich höre schon die Einwürfe: das ist doch was ganz anderes, wir sind schließlich dafür verantwortlich, daß aus dem Kind was wird, ich bin doch nur so streng, weil ich will, daß mein Kind eine gute Ausbildung bekommt usw.
Ich kenne diese Sorgen auch, wenn auch immer weniger. Denn

1.  zählt die Zeit jetzt auch, oder, wie M. Mead sagt: "Die Zukunft ist Jetzt!" Das Leben beginnt nicht erst nach dem Schulabschluß, nach der Ausbildung, nach der abgeschlossenen Karriere.
2.  ist mir bekannt, daß Sorgen, Strafen und Druck schlechte Lehrmeister sind für Entwicklung zur Selbständigkeit, Kreativität, Kompetenz und Verantwortung sich selbst und anderen gegenüber.

Daß meine Kinder keine Vorschriften von mir bekommen, bringt mir gelegentlich den Vorwurf ein, ich scheue die Konflikte und würde mich dadurch beliebt  machen wollen. Ja, ich habe es lieber, wenn wir friedlich miteinander leben, und es gefällt mir, daß wir gut miteinander klarkommen. Natürlich heißt das nicht, daß wir in allem einer Meinung sind. Wenn ich einen anderen Standpunkt habe, so reden wir darüber und ich hoffe (mal mehr, mal weniger), daß  meine Argumente in ihre Überlegungen mit einbezogen werden. Das betrifft z.B. Schulangelegenheiten, das Nachhausekommen zu einer bestimmten Zeit, gesundheitliche Fragen wie Ernährung, Schlaf, Rauchen etc. Im Endeffekt sind das ihre Angelegenheiten, aber ich habe das Bedürfnis, ihnen meine Gedanken über eventuelle Konsequenzen oder Gefahren mitzuteilen. Sie wissen, daß ich ihre Entscheidung respektiere. Das hat zur Folge, daß sie mir nichts vormachen müssen (Was für ein Glück!). Fragen wie "Erlaubst Du mir, daß ich..." und Antworten wie "Ich erlaube das nicht." gibt es bei uns nicht mehr.
Bereiche, die in die Öffentlichkeit gehen, fordern zusätzliche Überlegungen. So werde ich als Erziehungsberechtigte angesprochen, wenn mein Kind in der Schule fehlt. Hier ist es mit dem Austauch von Argumenten nicht getan. Ich muß handeln, obwohl es der Zuständigkeitsbereich des Kindes ist. Im Fall des verweigerten Chemieunterrichtes von Benjamin habe ich seinem Wunsch entsprochen, zu unterschreiben, daß ich über sein Fehlen informiert bin und die Verantwortung für die Fehlzeit übernehme. Ich habe das gemacht, obwohl ich von der Aktion nicht 100%ig überzeugt war. Aber ich sah, daß Benjamin fest entschlossen war, diesen Weg zu gehen und die eventuellen Folgen auch zu tragen.
Nun zu den Schwierigkeiten. Es fällt mir nur ein Nachteil ein, die Erkenntnis, daß Gleichberechtigung nicht auch Gleichverpflichtung bedeutet. Daran habe ich lange gekaut und tue es manchmal heute noch.
Als die Kinder immer Rechte forderten, wollte ich als "Berechtigung" ihrer Forderungen, vielleicht auch als Gegengabe, daß sie mehr Pflichten im Haushalt übernehmen sollten. Ich wollte ihnen nicht mehr sagen müssen "wasche bitte ab" oder "räume die Sachen weg, auch wenn sie mal nicht von dir sind" usw. Sie sollten zunehmend nicht nur für den eigenen, sondern auch für den gemeinsamen Bereich verantwortlich sein. Ich wünschte mir eine Art von Wohngemeinschaft. Das habe ich nicht erreicht. Z.B. das leidige Thema Abwasch: Da bin ich manchmal ärgerlich, daß keiner sieht, daß abgewaschen werden muß. Manchmal fordere ich zu Abwaschen auf, dann machen sie es. Und meistens mache ich es selbst.  Daß mein Kreis um mich da sehr groß ist, liegt vielleicht auch daran, daß wir immer drei Wochen zusammenleben und drei Wochen nicht. Das fördert eine gewisse Großzügigkeit. Es ist aber meine Entscheidung. Sollte ich mich ausgenutzt fühlen, was manchmal vorkommt, dann muß ich meinen Kreis enger machen, was ich auch tue. Und was das Argument angeht: "Später müssen sie auch...", so weiß ich daß sie es können, wenn sie müssen.
Es ist immer gut, wenn man die Dinge, die man für andere tut, auch für sich selbst tut. Für mich ist diese Erkenntnis eine gute Entscheidungshilfe, wenn ich noch nicht sicher bin, ob ich etwas "für die Kinder" machen soll. So entstehen keine Erwartungen, die leicht zu Vorwürfen oder Groll führen können. Jeder von uns hat das Recht zu sagen: ich möchte nicht. Und es wird akzeptiert (na ja, mal sofort, mal nach Umstimmungsversuchen, aber nie mit Druck, Drohungen oder länger anhaltender schlechter Laune).
Manchmal bin ich traurig, daß ich mich nicht schon früher getraut habe, auf Erziehung zu verzichten. Aber besser spät als nie (oder: "Lieber gleich berechtigt als später")! Was mir dabei geholfen hat, ist die Tatsache, daß ich mit einem Mann zusammenlebe, der (als Nicht-Vater vielleicht nicht so ungewöhnlich) keinen Erziehungsanspruch hatte, ihn aber auch nicht entwickelt hat, mit dem ich alle Sorgen und Überlegungen besprechen konnte, vor dem ich mich nie rechtfertigen mußte und der in kritischen Situationen für den Schwächeren Partei ergriffen hat. Dafür bin ich dankbar, denn ich weiß aus eigener Erfahrung und von anderen Paaren, daß Streit über den Umgang mit den Kindern sehr belastend ist. Besonders, wenn man es anders machen möchte als üblich, braucht man Unterstützung. Und die habe ich.
Nun noch ein kleiner Ausblick. Immer wieder überrascht und erschreckt es mich, wenn ich sehe, wie 20-, 30-, 40jährige, die schon längst selbständig leben, sich von der Beurteilung ihrer Eltern abhängig fühlen und sie deshalb "schonen", in dem sie nicht aufrichtig zu ihnen sein können oder sich im Streit abgrenzen müssen und dann Schuldgefühle haben. Habe ich mir doch auch selbst mit 35 Jahren sehr viel Gedanken darüber gemacht, wie ich meinen Eltern die Trennung von meinem damaligen Partner und Vater meiner Kinder möglichst schonend beibringe (als wenn ich nicht genug andere Sorgen gehabt hätte!).
Als Ergebnis einer guten Eltern-Kinder-Beziehung wünsche ich mir deshalb, daß sich die Kinder auch später nicht mit un- oder ausgesprochenen Vorwürfen und Erwartungen herumschlagen müssen oder nie erreichter Anerkennung hinterherlaufen wollen.

Dagmar Kiesewetter

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