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Ausgabe 21

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Kommentar: Ziel verfehlt
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Nicotapias Kolumne
K.R.Ä.T.Z.Ä.-Aktionen
Musike fom veinsten
"Die Schule - Ein Frevel an der Jugend"
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Cover Ausgabe 21
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Die Schule als Herrschaftsmittel des Staates

Buchrezension über Walther Borgius'

"Die Schule - Ein Frevel an der Jugend"

Walther Borgius machte in seinem Buch schon im Jahre 1930 mit der oft gehörten Aussage kurzen Prozeß, die Schule sei im Sinne der jungen Menschen erfunden worden, um sie z.B. vor Kinderarbeit zu schützen und ihnen das Aneignen sinnvollen Wissens und brauchbarer Fähigkeiten zu ermöglichen.

In seinem Buch "Die Schule - Ein Frevel an der Jugend" analysiert Dr. Walther Borgius die Geschichte und die Grundsätze der Schule, seitdem sie existiert. Er zeigt die Anfänge des Schulwesens auf und macht dabei überzeugend darauf aufmerksam, daß die Schule immer nur als Herrschaftsmittel des Staates existierte. Die Schule sei, so Borgius,
"ein ausgezeichnetes Mittel, die Bevölkerung des beherrschten Territoriums von klein auf zu bequemen Untertanen überhaupt zu drillen. Was ihnen da gelehrt und beigebracht wurde, war verhältnismäßig gleichgültig. Die Hauptsache war, daß sie, von Kindesbeinen an, an widerspruchslosen Gehorsam, geduldiges Stillehalten und Autoritätsglauben gewöhnt wurden. Stillesitzen, Maulhalten, aufs Wort gehorchen und blind glauben, was der Erwachsene, geschweige nun gar der Vertreter des Staates, sagt und lehrt, - das sind die unschätzbaren Errungenschaften, welche der vieljährige Schulbesuch der Kinder vom Erwachen ersten Denkens bis zur eigenen Erwerbsfähigkeit dem Staate einträgt." (S.29)
Borgius geht in seiner messerscharfen Analyse auch darauf ein, mit welchen Methoden der Schulbetrieb ausgeführt wird. Die jungen Menschen wurden so sehr verprügelt, daß in Schulgesetzen erstmals Lehrern vorgeschrieben werden mußte, welche Brutalitäten sie ausführen durften und welche nicht. Außerdem versuchte man immer den Schuldienst zeitlich so weit wie möglich auszudehnen, damit die Schüler nur möglichst wenig Zeit für sich selbst hatten:
"Die Galeere des tagfüllenden Stundenplans, des jahrfüllenden Klassenpensums ist nicht etwa nur ein notwendiges Übel, eine durch die leidigen Ansprüche des Lebens erzwungene Unerläßlichkeit, sondern ein raffiniert erdachtes Mittel zur Erschöpfung der Spannkraft des Kindes, zur Erdrosselung seiner freien Zeit." (S. 106)
Bis heute ärgern sich Schüler jeden Tag über die viele vergeudete Zeit, die sie in der Schule einfach nur absitzen müssen. Was hat nun eine solche Schule für Folgen? Borgius fragt: "Ist es verwunderlich, daß wir nach generationenlang erduldeter ‘staatlicher Schuldisziplin’ ein dermaßen verprügeltes unterwürfiges Volk mit Lakaienseelen geworden sind?" (S. 45). Es kann nicht oft genug betont werden, daß diese Sätze im Jahre 1930 veröffentlicht wurden, knapp drei Jahre bevor das unterwürfige Volk einen Diktator bekommen hat, dessen Gestapo alle noch verbliebenen Exemplare des Buches "Die Schule - Ein Frevel an der Jugend" sofort nach der Machtergreifung beschlagnahmte.
Nachdem Borgius die Schulen im späten Mittelalter, während und nach der Französischen Revolution, unter Bismarck und an vielen anderen historischen Stationen untersucht, geht Walther Borgius im zweiten Teil seines Buches ("Grundsätzliches") auch auf die einzelnen Schulfächer ein und untersucht sie - natürlich - auf ihre Nützlichkeit für den Staat. So diene beispielsweise die Geographie nur dem "nationalpolitischen Zweck, der Jugend die Wichtigkeit der Staaten und Staatsgrenzen" zu suggerieren. Wozu auch sonst, oder ist es vom Standpunkt der "Intelligenz" oder des "Bildungs"interesses wichtig zu wissen,
"wo etwa nun Assuncion oder Tientsin gelegen ist und an welchem Flusse Lyon liegt? Wenn dort etwas ‘passiert’, so bringen ja die Zeitungen ohnehin darüber Mitteilung, meist mit besonderen Kärtchen dazu. Außerdem aber wird man eben (...) Atlanten bei der Hand haben, aus denen man sich im Einzelfalle informiert und mit der Zeit von selbst ein gewisses Anschauungsbild erhält." (S. 142)
In dem Kapitel über die deutsche Sprache schildert Borgius humorvoll, wie er sich das Lesen mit vier Jahren selbst erlernt hat, bis ihn seine Eltern einen Nachhilfelehrer auf den Hals jagten, der ihn auch noch mit dem "ekelhaften kleinen Einmaleins" plagte. Sein Überspringen der ersten Klasse ersparte ihm auch nicht viel Schulzeit, weil er im Gegenzug dazu viermal sitzenblieb. Aber Borgius hat natürlich auch zum Deutschunterricht seine Meinung:
"Zunächst ist es ebenso überflüssig wie schädlich, den Kindern überhaupt Schreiben und Lesen durch Schulzwang beizubringen. Die praktische Erfahrung läßt für jeden, der die Augen aufmachen kann, keinen Zweifel darüber, daß die Kinder ohne Schulunterricht beides nicht nur ebenfalls, sondern sogar schneller und besser lernen würden, wenn man ihnen ermöglichte, es statt aufgezwungenen Drills in bestimmten Stunden, spielend freiwillig voneinander zu lernen, zu der Zeit, wo bei ihnen das Interesse dafür erwacht." (S. 143)
Es wäre zuviel des Guten, Borgius noch bei seiner Kritik an den Schulfächern Rechtsschreibung, Naturwissenschaften, Mathematik, Kunst und Turnen widerzugeben, obwohl gerade letzteres eines nochmals deutlich macht: Über Jahrhunderte lang hat man "von unten" Turnunterricht gefordert, weil es gesundheitlich wichtig sei. Der Staat führte das Turnen allerdings erst ein, als es ein Interesse an der militärischen Tüchtigkeit des deutschen Volksheeres gab.
Die Argumentation gegen die Abschaffung der Schulpflicht wird von Borgius aufgegriffen:
"Es gibt nun Leute, welche behaupten: Ohne Zwang würden die meisten Kinder aber gar nichts leisten, für nichts wirkliches Interesse zeigen, geschweige denn gar sich realen ernstlichen und anhaltenden Anstrengungen dafür unterziehen, sondern nur faulenzen und Unfug treiben. Diese Auffassung (die übrigens allen Beobachtungen widerspricht) kommt mir immer vor, als behaupte man, die Kinder müßten, da sie ja noch gar nicht beurteilen vermöchten, was der Körper brauche, fünfmal täglich zu bestimmten Terminen vorgeschriebene Mahlzeiten von bestimmtem Ausmaß und bestimmtem Gehalt eingeflößt erhalten, ohne Rücksicht auf Hunger oder Neigung. Sonst würden alle ‘Suppenkaspers’ werden und elendiglich verhungern.
Solche Pessimisten ignorieren vollständig, daß der Geist doch genau wie der Körper ein sich naturgemäß entwickelnder Organismus ist und ganz von selbst dafür Sorge trägt, daß ihm zugeführt wird, was er zu seiner Entfaltung braucht, einfach durch den eigenen Drang." (S.169)
Am Schluß des Buches fordert Borgius die "Beseitigung der Schule" und besteht darauf, dies sei "nicht etwa bloße unfruchtbare Kritik oder die überspannte Idee eines schulverärgerten Utopisten, sondern nüchterne Erkenntnis eines schweren Krebsschadens unserer Kultur und plausibler positiver Vorschlag zu notwendiger Neugestaltung des Jugendlebens". Diese Neugestaltung hat Borgius allerdings noch nicht deutlich genug ausgearbeitet (der Autor starb zwei Jahre nach Veröffentlichung seines Buches).
Mir persönlich ist es übrigens egal, ob man die Lerneinrichtungen, die es nach der Schulpflicht geben wird, noch Schulen nennt oder nicht. Es wird dann sowieso sehr verschiedene Arten von Bildungshäusern geben, vielleicht Bildungsgutscheine, vielleicht Schulen, die wie Universitäten organisiert sind, Schulen wie Summerhill in England und welche, die so oder so ähnlich funktionieren wie jetzt auch. Es muß bloß das Grundprinzip gelten, daß niemand zum Lernen gezwungen wird.
Das Argument, Schule sei doch zu guten Zwecken erfunden worden, ist mit diesem Buch völlig entkräftet. Es ist zwar sowieso nicht sonderlich überzeugend, heutige Verhältnisse damit zu rechtfertigen, daß eine solche Handhabung in früherer Zeit durchaus sinnvoll und gut war, aber trotzdem ist es höchstinteressant, warum die Schule wirklich erfunden wurde. Nun darf man sich schon das nächste Gegenargument anhören: "Wenn es früher so schlimm war, dann ist die Schule heutzutage doch geradezu ein Lernparadies!" Interessanterweise gab es auch dieses Argument bereits 1930. Borgius jedenfalls schreibt:
"Es ist ein billiger Pharisäismus, jetzt darüber geringschätzig die Achseln zu zucken und selbstgefällig darauf hinzuweisen, ‘wie wir’s so herrlich weit gebracht’. (...) aber doch nicht etwa deswegen, weil der Staat heute seine Interessen zu Gunsten der eigenen Interessen der Schüler zurückgesetzt hat, sondern weil die Interessen des Staates heute anders aussehen, weil der Staat der Maschinengewehre und der Großindustrie und des allgemeinen Wahlrechts keine religiös verdummte Untertanenschaft mehr braucht, sondern eine naturwissenschaftlich in wenigstens den Elementen geschulte, gegen die Macht der Kirche durch antireligiöse Aufklärung immunisierte Wählerschaft und Arbeiterschaft. Ein krasser Irrtum wäre es, aus diesem Wechsel der realen Staatsinteressen zu folgern, daß der Staat heute im geringsten weniger, wie ehemals die Schule zur Drillung bequemer Untertanen mißbraucht." (S.73)
Hinzuzufügen wäre im Jahre 1997, daß die Schule natürlich menschenfreundlicher geworden ist - allerdings nur quantitativ. Die offensichtliche Brutalität (z.B. Prügelstrafe) wurde durch subtilere Erziehungsmethoden (Notengeben, Bloßstellen, "Ordnungsmaßnahmen") ersetzt, Strafe heißt heutzutage "Motivation" - klingt ja auch schöner. An der Qualität des Systems aber, am Zwangscharakter der Schule, hat sich, seitdem es sie gibt, grundsätzlich nichts geändert. Und somit auch nicht an der Möglichkeit des Staates, sich bequeme Untertanen heranzuzüchten. Auch wenn es heißt, es sollen kritische, selbständig denkende Bürger erzogen werden.

Benjamin Kiesewetter

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