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Ausgabe 21

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Das Recht, von zu Hause auszuziehen
Kinder in den Keller oder in die Garage einzusperren, erregt - sofern
es aufgedeckt wird - völlig zu Recht öffentliches Aufsehen und
Empörung, Kinder in der Wohnung einzusperren nicht. Im Gegenteil:
Freiheitsberaubung heißt, falls sie bewußt geschieht, "Stubenarrest"
und wird von nicht wenigen angewandt, befürwortet oder mindestens
toleriert, weil ja sogenannte "erzieherische Erfolge" nicht ausgeschlossen
sind. Aber auch ohne, daß es einem bewußt wird, werden Kinder
tagtäglich zu Hause eingesperrt, einfach dadurch, daß sie nicht
das Recht haben, zu Hause auszuziehen.
Die Ursachen, warum Kinder nicht mehr zu Hause leben wollen, sind unterschiedlich.
Vielleicht ist es für die Kinder zweckmäßiger oder einfach
schöner, an einem anderen Ort zu leben. Häufig fühlen sich
die Kinder in der Familie nicht mehr wohl und/oder sind nicht damit einverstanden,
wie sie von Eltern (oder anderen in der Familie lebenden Personen) behandelt
werden und wollen sich dem nun entziehen. Verbietet man Kindern dieses,
so schränkt man ihr Grundrecht auf Freizügigkeit ein.
Man stelle sich vor, man zwänge einen Erwachsenen mit zwei wesentlich
älteren Menschen zusammenzuleben, die komplett andere Interessen haben
und noch zusätzlich Macht ausüben, einen erpressen, bestechen
und bedrohen wollen, sowie einen aus Entscheidungsprozessen jeglicher Art
ausschließen. Wer würde da nicht daran denken auszuziehen, wenn
er denn könnte?
Daß das Kind oder der Jugendliche in eine eigene Wohnung zieht,
ist nur eine von vielen Möglichkeiten - und vermutlich nicht mal die
wahrscheinlichste. Bei gegenseitigem Einverständnis könnte das
Kind z.B. zu anderen Verwandten ziehen, bei der Familie von Freunden wohnen
oder in einer Jugend-WG.
Erwachsene, die zusammen in einer Wohnung leben und nicht mehr miteinander
klarkommen, haben ja auch, mindestens im Prinzip, die Möglichkeit,
für einige Zeit oder auch für länger zu jemand anders zu
ziehen. Kinder haben diese Möglichkeit bisher nicht, sie dürfen
sich nicht aussuchen, mit welchem/n Menschen sie zusammenleben, während
Eltern ihre Kinder sogar ins Kinderheim abschieben können. Dieses
einseitige (Macht-)Verhältnis ist mit der Gleichberechtigung der Generationen
nicht vereinbar.
Das Recht, zu Hause auszuziehen, ist ein wichtiger Schritt für
mehr Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen. Ihnen dieses Recht
nicht länger vorzuenthalten ist vergleichbar mit der Abschaffung der
Anwesenheitspflicht in der Schule. Solange die Teilnahme an der Schule
bzw. an der Familie nicht freiwillig ist, sind beide nicht wirklich demokratisch,
egal wie gerecht und demokratisch diese beiden Lebensorte intern gestalten
sein mögen.
Solange dieses Recht für Kinder und Jugendliche nicht existiert,
ist das eigene Zuhause für sie faktisch, nach der Schule, ein zweites
Teilzeitgefängnis.
Finanzierung
Bei der praktischen Umsetzung stellt sich das Problem der Finanzierung.
Ideal wäre natürlich ein Recht auf vom Staat bezahlten Wohnraum
für jeden einzelnen Menschen, dies ist zur Zeit allerdings wenig aussichtsreich.
Eltern sind laut Bürgerlichem Gesetzbuch für ihre Kinder unterhaltspflichtig.
In der Praxis wird es allerdings als ausreichend angesehen, wenn sie die
Kinder bei sich zu Hause wohnen lassen und dort verpflegen. Die Bestimmung
müßte dahin geändert werden, daß Eltern ihren nicht
mehr zu Hause lebenden Kindern soviel Geld auszahlen müßten,
wie die Kinder auch verbrauchen würden, wenn sie bei ihren Eltern
leben würden. Reicht dieses Geld für die Kinder nicht aus, müßte
das Sozialamt die Differenz übernehmen.
Martin Wilke
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