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Ausgabe 23

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Alice Miller: Wege des Lebens
Das Buch handelt im Schwerpunkt von Lebensgeschichten, die Menschen
einem lange nicht gesehenen Freund, einer Freundin oder auch einem Elternteil
erzählen. Meist haben diese Menschen leidvolle Erfahrungen in der
Kindheit gemacht, als junge Erwachsene unglückliche Ehen geführt,
haben aber durch Therapien oder glücklichere Lebensumstände wie
liebevolle und verständnisvolle Freunde die Ursachen ihres Unglücks
und deren Folgen erkannt und mehr oder weniger erfolgreich bearbeitet.
Es geht Miller um die Erkenntnis, daß die Vergangenheit nicht
zu ändern ist, daß aber die daraus resultierenden Folgen durch
Erkennen und Verstehen veränderbar und eine Voraussetzung dafür
sind, dem Wiederholungszwang zu entgehen. Eine ihrer Thesen ist, daß
die Ursache von Hass erlebtes Grauen ist, das geleugnet wird und deshalb
zur Vergeltung treibt (ausführlicher beschreibt sie dieses Thema auch
in ihrem Buch "Am Anfang war Erziehung"). Sie plädiert für den
Mut zur Wahrheit, denn auch ein Verzeihen ohne Erkenntnis verschleiere
die eigenen erlebten Gefühle und das Verstehen der Motive der Eltern.
Nun bin ich zwar auch der Meinung, daß es nie zu spät ist,
mit der Suche nach Wahrheit anzufangen. Beim Lesen der Geschichten hatte
sich aber bei mir die Idee festgesetzt, daß es doch noch sinnvoller
wäre, so früh wie möglich damit anzufangen, als JugendlicheR,
wenn die Erinnerungen noch frisch sind, wenn die leidvollen Erfahrungen
nicht schon wieder verbannt werden (müssen) durch eigene Zwänge,
in denen man vermeintlich steckt, wie problematische Partnerschaften, Überforderung
und unglückliche Erziehungsversuche an den eigenen Kindern.
Der Wunsch, es einmal besser machen zu wollen, reicht allein nicht
aus. Den hatte wahrscheinlich irgendwann jeder einmal.
Ich plädiere deshalb für eine aktive und bewusste Auseinandersetzung
über Kindheitserlebnisse im jugendlichen Alter, nicht im Sinne von
Anklage, die nichts verändern kann, sondern im Sinne von Erinnern
und Erzählen von Erlebnissen und Gefühlen, von Fragen stellen
können, Zuhören und Verstehen wollen.
Im Epilog prangert Miller das Schlagen von Kindern an. So richtig ich
dies finde, vermisse ich doch ihre Verurteilung jeglicher Gewalt - Erziehung
genannt - und ein Aufzeigen einer Alternative - das gleichberechtigte Zusammenleben
von Eltern und Kindern in Folge der Antipädagogischen Aufklärung,
von deren Existenz sie weiß.
Trotzdem ist "Wege des Lebens" ein lesenswertes Buch, eine Aufforderung,
sich der Leiden, die man als Kind erfahren hat, zu stellen, um den Folgen
nicht ausgeliefert zu sein.
Dagmar Kiesewetter
Alice Miller: "Wege des Lebens - Sieben Geschichten",
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1998
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