KinderRächtsZeitung Regenbogen
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Ausgabe 23

Editorial
Lernen trotz Schule - Warum Pfefferminze in der Schokolade kühl schmeckt
Die Zehn Verbote
Werbung für den Antipädagogischen Rundbrief
Für Kinderrechte heißt gegen die "Kinderrechtskonvention"
Macht Schule Sinn
K.R.Ä.T.Z.Ä. sächselt [zwei Leipzigerinnen über uns]
Im Internet gut gefunden - Demokratische Schulen in den USA
Dringend gesucht: Spenden
KSZE heißt jetzt O.A.S.E.
Kölner Konferenz
K.R.Ä.T.Z.Ä.-Aktionen
Zur Bundestagswahl - Parteien im Vergleich (AK Kinderrechte/Gleichberechtigung des 2. Jugendkongresses der SRzG)
An-, Ab- und Aussichten [kurze Kommentare zu kinderrechtlichen/politischen Themen]
Nicatapias 4. Kolumne
Es ist Wahlk(r)ampf ... [zur Ausländerpolitik]
Alice Miller: Wege des Lebens [Rezension]
Kinderrechtliche News
Kinderrechtliches bei der APPD
Die 68er und ihre Kinder - Ein Plädoyer gegen antiautoritäre und jede andere Erziehung

Cover Ausgabe 23
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Die 68er - Warum wir Jungen sie nicht mehr brauchen

Die 68er und ihre Kinder

Ein Plädoyer gegen antiautoritäre und jede andere Erziehung

Am 25. Mai ist das Buch "Die 68er - Warum wir Jungen sie nicht mehr brauchen" erschienen, herausgegeben von der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen. In diesem Buch äußert sich zum ersten Mal in dieser Form die junge Generation zum Thema "30 Jahre 68er". Wir drucken einen Auszug aus dem Buchbeitrag von Benjamin Kiesewetter.

Viele Erwachsene glauben heute, daß die Idee von einem freieren Umgang mit Kindern "leider" gescheitert sei. Der Versuch, Kinder ohne Verbote und Strafen aufwachsen zu lassen, habe desorientierte oder sogar egoistische, unsoziale Menschen hervorgebracht, die mit ihrem Leben nicht klarkommen. Und vor allem in der Praxis des Zusammenlebens von Eltern und Kindern habe sich gezeigt, daß man ohne erzieherische Autorität nicht auskommen könne.
Ich bin der Meinung, hier einen Denkfehler entdeckt zu haben: Eine Hauptthese meines Beitrages ist, daß die antiautoritäre Erziehung nicht wegen antiautoritärem Verhalten gegenüber Kindern gescheitert ist, sondern wegen des Aufrechterhaltens der Idee, daß man Kinder weiterhin erziehen müsse. Ich habe meinen Buchbeitrag auf einige Thesen und Erläuterungen reduziert:

Erziehung ist im Kern eine zutiefst undemokratische und manipulative Angelegenheit, dies gilt für antiautoritäre Erziehung genauso wie für jeden autoritäreren Erziehungsansatz. Die Alternative ist nicht eine andere Erziehung, sondern die Gleichberechtigung zwischen Eltern und Kindern. Das ist die Abschaffung von Erziehung.
Ein Blick in das Bertelsmann Lexikon verrät: "Erziehung, planmäßige Tätigkeit zur Formung junger Menschen (...)" Der Erziehungswissenschaftler Dilthey ergänzt: "Unter Erziehung verstehen wir die planmäßige Tätigkeit, durch welche die Erwachsenen das Seelenleben von Heranwachsenden bilden".
Erziehung ist also "planmäßig". Das heißt, sie ist gezielte, absichtliche (intentionale) Beeinflussung. Erziehung bedeutet, daß der Erzieher dem Zögling ein Ziel setzt, zu dem der Zögling gelangen (notfalls "gezogen" werden) soll. Das ist Machtausübung von oben nach unten: Es gibt immer ein Subjekt und ein Objekt der Erziehung - einen Erzieher und einen Zögling.
 Erziehung richtet sich (im Gegensatz zum Begriff "Lernen") hauptsächlich nicht an den Verstand des Menschen, sondern an sein "Seelenleben", sie soll seinen Charakter formen, seinen Willen, sein Gefühl, seine Psyche (deutsch: "Seele"). Nur wenn einer den anderen zum Guten und Richtigen bekehren will, wenn der Andere sich ändern (und nicht seine Meinung überdenken) soll, dann kann man von Erziehung sprechen.
Erziehung bedeutet für den Zögling meistens auch Zwang, weil das Kind etwas tun oder werden soll, auch wenn es das nicht will. Oftmals wird es mit Verführung oder mit körperlicher und vor allem psychischer Gewalt dazu gebracht. Erziehung bedeutet auch dann Zwang für den Zögling, wenn alles freiwillig und fröhlich zu sein scheint, weil das Kind im Hintergrund genau die Drohung kennt, was passiert, wenn es nicht mitmacht. Im Grunde genommen heißt Erziehung, das Kind in seinem So-Sein nicht zu akzeptieren, zu respektieren oder zu tolerieren, sondern es ändern (oder "verbessern") zu wollen.
Daraus ergibt sich, daß Erziehung ein intoleranter und vor allem undemokratischer Vorgang ist. Zur Demokratie gehören unweigerlich auch die Grundrechte auf Selbst- und Mitbestimmung. Diese Grundrechte werden durch Erziehung außer Kraft gesetzt.
Auch das Wort "Erziehung" sollte nicht neu besetzt und im Sinne der Gleichberechtigung verwendet werden, weil es bisher erfolgreich dazu dient, elterlichen (aber auch z.B. schulischen) Machtmißbrauch gegenüber Kindern zu verschleiern. Es ist sinnvoll, dies aufzudecken und nicht weiterhin dafür zu sorgen, daß Erziehung als Synonym dafür steht, "was für Kinder gut ist".

Der innere Widerspruch zwischen antiautoritärem und gleichzeitig erzieherischem Verhalten hatte Durcheinander und eine inkonsequente Haltung von 68er-Eltern zur Folge.
Die 68er haben sicherlich für menschenfreundlichere Beziehungen zwischen Eltern und Kindern viel getan. Auch wenn heute davon gesprochen wird, daß die antiautoritäre Erziehung gescheitert sei, so finden sich doch viele der damaligen Ideen überall wieder und sind praktisch übernommen worden. Antiautoritäre Erziehung ist also nur als Ganzes gescheitert. Die Idee der antiautoritären Erziehung ist aber in sich widersprüchlich. Als eine Folge davon bestehen viele heutige Eltern-Kind-Beziehungen aus einem Durcheinander an partnerschaftlicher Haltung, subtilen Erziehungsversuchen und offensichtlichen Machtkämpfen, bei dem sich weder Kinder noch Eltern wohlfühlen. Wie in so vielen Bereichen hatten die 68er ganz andere Vorstellungen wie sie mit Kindern umgehen wollten als sie es dann tatsächlich taten und tun. Der Grund für dieses Scheitern liegt nicht darin, daß die 68er ihre Ideale verraten haben. Es war auch nicht die plötzliche Einsichtsfähigkeit in die Tatsache, daß man ohne Verbote und Strafen mit Kindern nicht umgehen kann, die das Projekt scheitern ließen. Es war der Widerspruch zwischen antiautoritärem und gleichzeitig erzieherischem Verhalten, ein gedankliches Mißverständnis, das bis heute in der Öffentlichkeit nicht richtig aufgeklärt worden ist.
Das Scheitern antiautoritärer Erziehung hatte aber nicht zur Folge, daß die 68er-Eltern zu der autoritären Erziehung zurückgegangen sind, die sie selbst noch in ihrem Elternhaus aushalten mußten. Die meisten 68er-Eltern haben eine sehr inkonsequente erzieherische Einstellung. Es besteht zwar der feste Glaube, daß man Kinder erziehen muß, daß antiautoritäre Erziehung ein gescheitertes Projekt ist und daß wir wieder pädagogische Grenzen brauchen. Aber wie erzogen werden soll, weiß keiner genau. Oft geht es ungewollt: mal so, mal so.

Die faire, konsequent-logische Antwort auf traditionelle Pädagogik ist nicht Reformpädagogik, sondern Antipädagogik.
Viele Menschen glauben tatsächlich, es sei gar nicht möglich, nicht zu erziehen. Deswegen setzen sie "Antipädagogik" mit "Antiautoritärer Erziehung" gleich. Für sie ist Antipädagogik eine Alternativpädagogik. Als ob man einen Antifaschisten als Alternativfaschisten bezeichnen würde!
Ein Vergleich zwischen Pädagogik, Reformpädagogik und Antipädagogik zeigt am Thema Grenzen auf, wie sich das Mißverständnis der antiautoritären Erziehung auswirkte: "Kinder brauchen Grenzen" hieß eine - wenn nicht sogar die entscheidende - Losung der Pädagogik in den 90er Jahren. Sie war natürlich auch als Reaktion auf die 68er-Zeit zu verstehen, in der es hieß, daß sich Kinder dann am besten entwickeln könnten, wenn man ihnen gar keine Grenzen setze.
Nun wird diese pädagogische Debatte um Grenzsetzungen (ein Euphemismus übrigens für "Verbote", es hört sich nur schöner an) auf einem sehr platten und undifferenziertem Niveau geführt. Es gibt Grenzen, die man (aggressiv) anderen setzt, und es gibt eben Grenzen, die man (defensiv) zu seinem eigenen Schutz zieht. Diese Unterscheidung wird von der Öffentlichkeit nicht vorgenommen. Zu einer defensiven Grenzsetzung gehört z.B. der Satz: "Sei bitte leise, wenn du spät nach Hause kommst, damit du mich nicht aufweckst." Oder auch: "Laß mich alleine / Gehe bitte aus meinem Zimmer." Diese Grenzsetzungen gehören zum einfachen Notwehrrecht jedes Menschen, sie sind damit demokratisch legitimiert: Jeder Mensch hat das Recht, sich in der Not zur Wehr zu setzen. Niemand hat jedoch das demokratisch legitimierte Recht, anderen Menschen aggressive Grenzen zu setzen.
Nun sind interessanterweise alle pädagogischen Grenzen gleichzeitig aggressive Grenzen, denn keine pädagogische Grenze wird mit dem Notwehrrecht begründet. Ganz im Gegenteil sind solche Grenzen dazu da, andere Menschen "vor sich selbst zu schützen", sie zu ihrem eigenen Glück zu zwingen. Der Grenzsetzer tut in diesem Fall also so, als wüßte er besser über des anderen Menschen Glück bescheid. Konsequenterweise wird er seine Macht dazu benutzen, seine Meinung gerade gegen den Willen derjenigen Person, für deren Glück er kämpft, durchzusetzen. Dieser Vorgang, bei dem Kinder wunderbar lernen können, wie gut sich Gewalt als Mittel zur Durchsetzung von Interessen eignet, ist fast überall dort Realität, wo Menschen in der Annahme leben, sie müßten andere Menschen erziehen.
Die Frage, mit der sich ein pädagogisch eingestellter Mensch befaßt, lautet: Wie muß ich auf das Kind einwirken, daß es so wird, wie ich es mir vorstelle? Es gibt also Erziehungsziele und Erziehungsmittel, die erheblich voneinander abweichen. Im Zuge des Wertewandels Ende der 60er Jahre änderte sich das Erziehungsziel, es wurde geradezu in sein Gegenteil umgekehrt. Hieß es zuvor noch, Kinder müßten brav, angepaßt und gehorsam werden, so sprach man nun von der "Erziehung zum kritischen Denken", Ziel war der "mündige Bürger", der selbstbestimmt, unverklemmt und solidarisch sein sollte. Im Zuge dieser Veränderung sollte es auch nicht bei den herkömmlichen Erziehungsmitteln bleiben. Wurden Kinder zuvor fast automatisch belohnt, wenn sie sich wie gewünscht verhielten und bestraft wenn nicht, so wurde jetzt in den Familien der Intellektuellen aus (reform-)pädagogischen Gründen zunehmend auf das Prinzip Belohnung/ Bestrafung verzichtet.
Grundsätzlich veränderte sich gar nichts. Weiterhin war Erziehung qualitativ durch ein Oben-unten-Denken gekennzeichnet: Die Erzieher setzen ihren Zöglingen (jetzt: antiautoritäre) Ziele, zu denen sie mit  (jetzt: antiautoritären) Erziehungsmitteln hin"gezogen" werden. Erziehung bleibt aber Erziehung.
Im Hinblick auf die Grenzen bedeutete das folgendes: Da es nicht vordergründig darum ging, mit Kindern gleichberechtigte Beziehungen (mit demokratischen Regeln) zu führen, sondern darum, die genannten (neuen) Ziele an den Kindern zu verrichten, verzichtete man nicht nur auf die pädagogischen Grenzen, sondern auch auf die Notwehrgrenzen. Damit die Kinder so würden, wie sie werden sollten, galt das Erziehungsprinzip der Grenzenlosigkeit. Dies war der Fehler.
Sobald nämlich dieses Prinzip scheiterte, griff man wieder auf die pädagogischen Grenzen zurück. Die Alternative, Kinder als gleichwertige Mitmenschen zu akzeptieren, bei denen man nur dann Grenzen setzt, wenn man sich selbst eingeschränkt fühlt und von denen man sich gleichermaßen Grenzen setzen läßt, wurde nicht gesehen. Stattdessen wunderte man sich darüber, daß so viele "antiautoritär" aufgewachsenen Kinder Schwierigkeiten damit bekamen, Schutzgrenzen von anderen Menschen zu akzeptieren.

Durch das Steckenbleiben in der Grundhaltung "Erziehung" haben die emanzipatorischen Ansätze der 68er nicht gefruchtet. Der Teufelskreis der Erziehung hat sich fortgesetzt.
Spätestens mit Alice Millers Erkenntnissen gibt es eine sehr überzeugende psychologische Analyse, die aufzeigt, daß es sich bei Erziehung um eine Art Teufelskreis handelt. Auf eine allgemeine Formel gebracht bedeuten ihre Erkenntnisse: Die Kinder müssen die Gemeinheiten ihrer Eltern solange ertragen, bis sie sie mit ihren eigenen Kindern wiederholen. Der allgemeine Glaube, daß man Kinder erziehen muß, pflanzt sich so durch die Anwendung von Erziehung von Generation zu Generation fort.
Der genannte Teufelskreis ist glücklicherweise nicht unüberwindbar. Es schlagen schließlich nicht alle geschlagenen Kinder ihre eigenen Kinder. Und so war es eins der zentralen Ziele der 68er-Pädagogik, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. An den 68er-Eltern von heute kann man unschwer erkennen, daß dieses Ausbrechen nicht grundsätzlich gelungen ist. Vielmehr läßt sich das beobachten, was vorher auch schon der Fall war: Auch die 68er-Eltern wiederholen die Fehler, die schon ihre eigenen Eltern gemacht haben.
Zwar gibt es sicherlich wenige 68er-Eltern, die ihre Kinder schlagen, obwohl viele von ihnen in ihrer Kindheit Schläge bekommen haben. Trotzdem stecken die allermeisten 68er in den Denkmustern von Verbieten (und damit: Erlauben), Bestrafen (und damit: Belohnen) drin. Und das ist kein Wunder: Die 68er haben nicht erkannt, daß Pädagogik und Erziehung - besser vielleicht: pädagogischer und erzieherischer Umgang mit Kindern - nicht verbessert oder reformiert, sondern abgeschafft werden müssen. Es bedarf keiner Reformpädagogik, sondern einer Negation der Pädagogik (=Antipädagogik).
Mit der antiautoritären Erziehung hat man sich von den Voraussetzungen der Erziehung nicht verabschiedet. Mittel und Ziele der Erziehung sollten sich ändern, das Oben-unten-Denken aber, die zwangsläufige Aufteilung in Subjekt und Objekt, blieb bestehen.
So hatte das Scheitern antiautoritärer Erziehung zur Folge, daß viele 68er-Eltern wieder auf die traditionelle Erziehung zurückgriffen.

Aus dem Scheitern der antiautoritären Erziehung sind die falschen Schlüsse gezogen worden. Heute wird wieder eine konsequentere und autoritärere Erziehung gefordert, weil die Alternative nicht gesehen wird, mit der Erziehung ganz aufzuhören und mit jungen Menschen gleichberechtigte Beziehungen zu führen.
Dabei wird gerade in der Werteerziehungs-Debatte viel gedanklicher Unsinn produziert. So versucht man, mit undemokratischen Mitteln (Erziehung), demokratische Werte zu vermitteln, ungeachtet der Tatsache, daß auch dieser Versuch an seinem inneren Widerspruch zum Scheitern verurteilt ist. Dabei ist es so einfach: Demokratische Werte, die gelebt werden, brauchen nicht gepredigt oder gar anerzogen zu werden.
Durch Erziehung erreicht man nicht, daß Menschen demokratische Werte annehmen und wichtig finden. Falls es ein Erzogener trotzdem tut, so liegt es nicht an der Erziehung, sondern an den Erfahrungen, die der Mensch außerhalb der Erziehung gemacht hat. Durch Erziehung erreicht man eher das Gegenteil: Denn die Sympathie gegenüber Werten verringert sich schon dann beträchtlich, wenn man sie ständig gepredigt bekommt und jemand versucht, sie anzuerziehen. Kindern und Jugendlichen werden immer die Mittel der Erziehung im Blut bleiben - und die können nun mal nicht demokratisch sein. Damit Erziehung funktioniert, muß das Ziel den gleichen Inhalt haben wie das Mittel (es muß also auch undemokratisch sein).
Wer demokratische Ziele hat, muß auch demokratische Mittel finden, sie durchzusetzen. Er muß sich von Erziehung verabschieden.

Benjamin Kiesewetter

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