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Ausgabe 18

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Aufgelesen: "Der Plan von der Abschaffung des Dunkels"
Augenblicke, die werden wie die Ewigkeit
"Unfähig zu stabilen Gefühlsbeziehungen" ist sein
Stempel. So ist Peter eingeordnet, bewertet worden von Biehl, an dessen
Privatschule er sich befindet, und den Leitern der anderen sieben Waisenhäuser
und Kinderheime, die er bereits hinter sich hat. August nennen sie "verhaltensgestört".
Katarina bekommt heimlich Briefe zugesteckt. Die Zeit kann man festhalten,
wird ihr von dem zwei Jahre jüngeren Peter erklärt. Heimlich
treffen sie sich, und sie stellt seltsame Fragen: Warum hat die Schule
August aufgenommen? Wieso die verschärften Sicherheitsmaßnahmen
und die psychologischen Tests - seitdem er da ist? Weshalb haben die Lehrer
ihre eigenen Kinder von der Schule genommen?
Es klingelt. Das Schrillen der Schulglocke gehört zu dem Plan, der
dahinter steckt. Die Zeit ist nichts Naturwissenschaftliches. Wenn man
versucht, sie zu berühren, fängt sie an, sich aufzulösen.
Bewertung ist eines der großen Themen vom "Plan von der Abschaffung
des Dunkels". Darum geht es auch in diesem Plan, in dieser weltverbesserischen
Vision, die in Biehls geheimen Akten zu finden ist. Hoeg erzählt die
Geschichte von dem Kind, das auf dem Spielplatz balanciert und ihm zuruft:
"Guck mal." Eine andere Mutter sagt "Wie tüchtig du
bist." Peter Hoeg ist kurz davor, ihr den Kopf abzureißen, er
steht ernsthaft kurz vor einem Rückfall. Er setzt sich wieder, doch
es dauert eine Weile, bis er aufhört zu zittern: "Das Kind hatte
um Aufmerksamkeit gebeten. Sie hatte nur gebeten, gesehen zu werden. Doch
sie bekam eine Bewertung. 'Wie tüchtig du bist.' Es ist keine böse
Absicht, wenn man Leute bewertet. Man tut es nur, weil man selbst so oft
getestet worden ist. Schließlich kann man gar nicht mehr anders denken".
Hoeg schreibt: "sie hatte nur gebeten...", obwohl "sie"
zuerst "das Kind" ist. Wenn ein Kind nicht gerade "das Kind"
ist, ist sie oder er nicht ein Objekt.
Die drei Waisenkinder werden Kameraden im Kampf gegen das eiserne Regime
der Schule. Dabei wollen Biehl und seine Helfer doch nur das Beste: Das
Dunkel beseitigen, die Menschen gleichmachen. Auch August einem so hohen
Druck aussetzen, körperliche Züchtigung inbegriffen, daß
das Licht empor kommt. Einheitliche Bewertungsmaßstäbe zur Veredelung
der Menschen, die zur Unterdrückung wird. Als Anklage gegen das unmenschliche
Schulsystem schreibt Peter Hoeg eine faszinierend spannende Geschichte
mit biographischen Zügen. Als er zwanzig Jahre später das erste
Mal wieder eine Schule besucht, ist das Zwangsgefühl wieder da, daß
man in der Schule hat und daß der Kinderrechtler John Holt schon
1974 kritisiert hat: "die Gewißheit, eine Pflicht zu erfüllen,
um des Urteils und des Beifalls anderer willen: die Kinder für die
Lehrer; die Lehrer für die Eltern, für die Aufseher, für
die Schulleitungen oder für den Staat. Niemand an der Schule ist
jemals frei von dem Gefühl, daß er die ganze Zeit beurteilt
wird oder bald beurteilt werden könnte".
"Erwachsenwerden heißt zuerst vergessen und dann verleugnen,
was wichtig war, als man ein Kind war" schreibt Hoeg. Sein Roman ist
thematisch höchstinteressant und stilistisch brilliant. Die literarische
Qualität weckt die Faszination Buch. Zusammensetzungen von Wörtern
wirken in Peter Hoegs neuestem Roman manchmal wie Wunder. "Der Plan
von der Abschaffung des Dunkels" ist spannend bis zum Schluß
- und das, trotzdem zwischenzeitlich Elemente fast in Sachbuchform vorkommen,
in denen wir z.B. über zirkuläre und lineare Zeit aufgeklärt
werden. Die Zeitphilosophie ist sowieso das zweite große Thema des
Romans - nach Schule, Bewertung und Lernen: "Wissen ist etwas, das
es von vornherein gibt. Die einzige Leistung, die man erbringen muß,
ist, sich zu öffnen" schreibt der Autor.
Wer dieses Meisterwerk an inhaltlicher und literarischer Qualität
nicht liest, ist selbst schuld.
Benjamin Kiesewetter
Aufgelesen in Regenbogen Nr. 19 (3/96) "Desert
Blues"
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