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Ausgabe 22
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Kinderarbeit verboten!?
Seit 1½ Jahren können Kinder auf dem Abenteuerlichen
Bauspielplatz Kolle 37 Geld verdienen – einmal pro Woche besteht die Möglichkeit,
im Kiez Zeitungen auszutragen. Das dauert ungefähr drei Stunden und
bringt 30,- DM, manchmal auch mehr.
Die Vorgeschichte: Bei unserer Betreuungsarbeit auf dem Bauspielplatz
haben wir festgestellt, daß die Kinder, die uns besuchen (sie sind
ca. 6 bis 16 Jahre alt), Geldbedarf haben und daß sie auch – unabhängig
von ihrem Alter – dafür arbeiten würden, die meisten am liebsten
regelmäßig und mit Spaß.
Unsere Beobachtungen deckten sich mit den Ergebnissen von repräsentativen
Studien zum Thema Kinderarbeit in Deutschland, die kurz gefaßt besagen:
Obwohl in den meisten Fällen illegal, haben 80% aller befragten SchülerInnen
bereits vor dem Schulabschluß erwerbsgearbeitet, 34% sogar schon
vor dem 11. Lebensjahr. Die allermeisten dieser Kinder arbeiten freiwillig,
um ihr Taschengeld aufzubessern und unabhängiger von ihren Eltern
zu sein, weil es Spaß macht, weil man dazulernen kann, beteiligt
ist an gesellschaftlichen Prozessen und Anerkennung bekommt. Allerdings
lautet die offizielle Schlußfolgerung daraus entgegen dem offensichtlichen
Bedürfnis der Kinder: Kontrollen verstärken, um das Kinderarbeitsverbot
durchzusetzen.
Wir haben die Bedürfnisse der Bauspielplatz-Kinder nach Geldverdienen,
nach Erwerbsarbeit, ernst genommen und über entsprechende Möglichkeiten
nachgedacht. Wir ignorieren nicht die Gefahren, die auftreten können,
wenn Kinder arbeiten: Ausbeutung, Abhängigkeit, Mißbrauch, körperliche
und seelische Schäden. Vermutlich vor allem deshalb verbietet
auch das Jugendarbeitsschutzgesetz fast ohne Ausnahme die Beschäftigung
von Kindern unter 15 Jahren. Sein Anliegen ist der Schutz von Kindern,
aber erreicht werden soll der durch Verbote und Einschränkungen.
Wir halten es aber für möglich, Bedingungen für Erwerbsarbeit
unabhängig von einer Altersgrenze zu schaffen, unter denen diese Gefahren
vermeidbar oder zumindest minimierbar sind und die positiven Aspekte
zum Tragen kommen können. Grundsätzlich sollte unserer Meinung
nach Schutz nicht durch Verbote, sondern durch Stärkung und Schutz
der Rechte und durch zusätzliche Unterstützung der Schwächeren
erfolgen.
Als ersten Schritt in Sachen "Kinderarbeit" haben wir deshalb das sogenannte
betreute Erwerbsarbeiten erfunden: Wir unterstützen die Kinder bei
der Suche nach Erwerbsarbeit, informieren sie über die Zusammenhänge
und achten auf die Vermeidung von Gefahren. Unsere erste Aktion bestand
darin, mit einem Zeitungsverlag einen Verteilervertrag abzuschließen,
um den Kindern, siehe oben, Geldverdienen durch Zeitungaustragen zu ermöglichen.
Das fand von Anfang an großen Zuspruch, die Kinder reißen sich
(meistens) drum, es gibt zuweilen lange Wartelisten, und es gab nur ganz
selten Reklamationen mit Geldabzug durch den Verlag.
Leider stehen wir aber mit unserer Meinung zur Zeit ziemlich allein
auf der weiten Flur der Erwachsenen. Da die meisten Leute "Kinderarbeit"
nur aus der Sensationspresse kennen und als erstes Sklaverei und Prostitution
damit in Verbindung bringen, ist das auch kein Wunder, und Folgendes mußte
zwangsläufig irgendwann passieren:
Am 17. Dezember 1997 (Tatzeit: 13.30 Uhr, Tatort: Kollwitzstraße)
waren wie jeden Mittwoch Kinder mit dem Zeitungswagen unterwegs, diesmal
zwei Knaben im Alter von 9 und 10 Jahren. Sie fielen einer vorbeifahrenden
Polizeistreife auf, die die Jungen nach Alter und "Arbeitgeber" befragte
und sie zunächst ziehen ließ. Die Polizisten informierten aber
sofort den Verlag, und wir bekamen den aufgeregten Anruf einer Mitarbeiterin:
"Aber Sie sind doch ein soziales Projekt und wollen Kindern helfen! Wieso
schicken Sie sie dann arbeiten?" Auf meine Antwort, daß wir den Kindern
ja gerade deshalb die Arbeit beschaffen, verband sie mich vorsichtshalber
mit ihrem Chef. Und dieses Gespräch war dann sehr interessant:
Schon wenige unserer Argumente, die ihm bis dahin mit Sicherheit unbekannt
waren, konnten ihn überzeugen, daß "Kinderarbeit" nicht nur
schlecht ist. Er zeigte Verständnis für unser Erwerbsarbeitsprojekt,
aber er bestand auf Gesetz und Vertrag. Und zumindest mit letzterem hatte
er natürlich recht, ich hatte schließlich mit dem Vertrag auch
das Arbeitsverbot unter 14 unterschrieben. Ich mußte also geloben,
daß ab jetzt immer ein/e 14-jährige/r die Zeitungen (((mit)))
austrägt. Kaum war unser Gespräch zu Ende, fuhr das Polizeiauto
vor und lieferte die Jungen samt Zeitungswagen bei uns ab. Die Polizisten
hatten sich das ungesetzliche Treiben eine Weile mit angesehen und die
beiden dann kurzerhand eingesackt. Ich mußte meine Personalien angeben
und wurde auf meine Ordnungswidrigkeit aufmerksam gemacht: "Kinderarbeit
ist verboten! In Oslo fand mit deutscher Beteiligung gerade wieder eine
Konferenz zur weltweiten Ächtung von Kinderarbeit statt!" Das war
uns bekannt, aber auch, daß dort etliche verantwortungsvolle Menschen,
die die Stimmen der arbeitenden Kinder selbst ernst nehmen, statt der Abschaffung
jeglicher Kinderarbeit die Abschaffung der ausbeuterischen und gefährlichen
Formen der Kinderarbeit forderten.
Interessanterweise folgten auch die Polizisten nach kurzer Diskussion
unseren Argumenten. "Ich verstehe Sie, für die Kinder ist das toll,
was Sie machen, und vielleicht klauen sie ja dann auch etwas weniger. Aber
leider: das Gesetz. Ich muß gegen Sie ein Ordnungsstrafverfahren
einleiten. Auch wenn ich Ihre Position nachvollziehen kann, da gibt es
keinen Ermessensspielraum", was zu stimmen scheint; jedenfalls erhielt
ich vier Wochen später ein entsprechendes Schreiben. Der Ausgang der
Sache ist noch offen...
Wie auch immer: Wir werden jedenfalls weiterhin nach praktikablen Formen
der betreuten Erwerbsarbeit suchen. Im Moment denken wir gemeinsam mit
den Kindern und Jugendlichen über Unternehmensgründungen im Rahmen
unserer Einrichtung nach.
Meta Sell
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