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Ausgabe 19
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>TEIL EINER JUGENDBEWEGUNG<
Über >TOCOTRONIC<, ihre neue CD und ihr Konzert in der Volksbühne
Nach ganzen 50 Minuten soll nach Augenzeugenberichten das Konzert am
30.8. in der Volksbühne ausverkauft gewesen sein. Bis auf den 50.
Platz in den deutschen Charts haben Tocotronic es mit ihrer CD geschafft.
Auf das alles scheint Leadsänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow gar
nicht besonders stolz zu sein, und auch, daß die Bravo mal leise
angeklopft hat, scheint ihn nicht zu beeindrucken: "Man muß
halt sehen, mit wem man redet und mit wem nicht." Voll von solch klaren
Aussagen ist auch die neue Platte von Tocotronic, die Band, die nach einem
Gameboy-Vorläufer benannt wurde: Wir kommen, um uns zu beschweren.
Ihre Songs sind kurz, die meisten gehen keine zwei Minuten lang. "Wir
haben versucht in jedes Lied eine Idee zu packen und die dann nicht mehr
so weit auszuschmücken wie in den älteren Platten. Zum Beispiel
die Idee, daß einer aufwacht, und er hat die Zeitumstellung nicht
mitgekriegt, er lebt sozusagen immer eine Stunde zu früh" sagt
mir Dirk, mit dem ich vor einem Konzert die Möglichkeit habe, ein
Interview zu machen. Eine Ausnahme, denn eigentlich haben sie keine Lust
mehr auf Fragen beantworten - war ziemlich viel in letzter Zeit. Der Song
Die Welt kann mich nicht mehr verstehen, der daraus entstanden ist, war
- rein radiotechnisch - ein Erfolg. Einziges Manko: Er höre sich ein
bißchen wie Musik von Green Day an, wie alte Tocotronicfans sich
beschweren. Aber den Vorwurf, so neue Hörergruppen gewinnen zu wollen,
läßt Dirk nicht auf sich sitzen: Das sei ihm auch erst später
aufgefallen. Auch ihr erstes Video mit diesem Song sei nicht ein solcher
Versuch gewesen, es läuft sowieso nur einmal täglich nachts auf
Viva. "Wir haben ja zwei Videos gemacht - ein Song, der eigentlich
viel zu kurz für 'n Video ist und So jung kommen wir nicht mehr zusammen,
der eigentlich viel zu lang ist."
Die beklagte ständige Ich-Bezogenheit der jungen Menschen findet sich
bei den dreien von Tocotronic eindeutig wieder: Die Hälfte der Songs
fängt mit der 1. Person Singular an, darunter auch solche aussagekräftigen
Titel wie Ich habe geträumt, ich wäre Pizza essen mit Mark E.
Smith oder Ich bin ganz sicher schon einmal hiergewesen. Mit den Titeln
geben sich Tocotronic mühe, aber das war schon immer so, und irgendwas
muß sich doch verändert haben, wenn die "Tocos" inzwischen
auch schon in Burgerking- Zeitschriften auftauchen. Und das findet selbst
Dirk verwunderlich, "wo wir doch alle drei Vegetarier sind".
Ich werde mich nie verändern ist auch so ein Ich-Song und eigentlich
schon eine Antwort auf meine Frage - und richtig, eine andere bekomme ich
auch nicht, nichts habe sich verändert seit der ersten und der zweiten
Platte: ...auch wenn ich hin und wieder jetzt mal Fahrrad fahre, werde
ich mich nie verändern, ich werde immer derselbe sein. Ich werde mich
nie verändern, und vielleicht werde ich es mal bereuen, doch jetzt
noch nicht wie es auf der dritten und aktuellen CD heißt.
Und wenn man ganz genau weiß, daß eine der vielen Lieblingszeilen
- Es gibt nur cool und uncool und wie man sich fühlt - im Konzert
garantiert mitgesungen wird, dann spricht sich Dirk mit dem Bassisten Jan
Müller eben mal kurz ab und die Zeile wird so schnell gespielt, daß
keiner mehr mitkommt. Auf Starallüren keinen Bock - Dirk malt immer
noch keine Herzen neben seine Unterschrift: "Ach nee, komm!"
Obwohl ja eigentlich neuerdings gilt: Es ist besser, vor dem Stumpfsinn
zu kapitulieren. Ich wünschte, ich würde mich für Tennis
interessieren. Klar, denn das Spiel ist sicherlich nicht schwierig zu kapieren.
Und wenn man jetzt genau hinhört, hat sich doch was verändert.
Nicht nur musikalisch. Daß die Drei jetzt mehr technische Möglichkeiten
genutzt haben - okay, aber Dirk oder gar Arne Zank - der unscheinbar harte
Schlagzeuger - und Tennis? Es ist schon seltsam, daßich jetzt so
etwas von mir lasse , gerade weil ich doch schon immer alle Ballsportarten
hasse, doch ich muß meine alte Meinung revidieren: Ich wünschte,
ich würde mich für Tennis interessieren.
Wenn Arne als Vorprogramm beim Konzert ein paar Solos mit Gitarre und Gesang
zum Besten gibt, sind die Texte, die Stimmlage und das Tempo meistens noch
ein bißchen unkonventioneller als sowieso schon immer: Ich mach meinen
Frieden mit euch, hallo Vollidiot, hallo Arschloch. Überhaupt stehen
Tocotronic - völlig unamerikanisch ausgesprochen - nicht selten ganz
kurz vor der Schmerzgrenze. Manche Songs sind so langsam, daß ein
Mitbewegen oder gar Klatschen im Takt nicht möglich ist, weil man
zweifelsfrei immer zu früh kommt. Sonst spielen Dirk, Jan und Arne
Punk ohne Wenn und Aber. Der Song Ich möchte Teil einer Jugendbewegung
sein ist inzwischen schon Legende, oder wie es der Rolling Stone mitteilte:
"Das könnte für Tocotronic schnell Wirklichkeit werden".
Aber auch dieses Punkstück wird von einer endlos langen Zwischenmusik
unterbrochen, in der Dirk jammert: Jetzt müssen wir wieder in den
Übungsraum, oh Mann, ich habe überhaupt kein Bock.
Die Meinung über andere Bands ist auf der neuen CD auch zu einem Thema
geworden: Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst ist dazu
der eindeutigste Song. Und wenn sie jetzt vielleicht doch ein paar mehr
Fans haben als vorher, "besser sie hörn uns als irgendein Scheiß"
meint Dirk. Und was ist Scheiß - Take That? "Nöö,
Take That ist auch okay. Aber zum Beispiel Selig, aber wenn die jemand
gerne hört, ist das auch in Ordnung." Selbst würde Dirk
lieber Techno machen, was er aber nach eigener Einschätzung "einfach
nicht kann" oder wenigstens noch ein bißchen an seiner Housemusik-Theorie
basteln. Tocotronic stellen anscheinend keine hohen Ansprüche. Ich
möchte irgendwas für dich sein ist der längste Song und
kommt mit zwei Zeilen absolut aus: Am Ende bin ich nur ich selbst.
Benjamin Kiesewetter
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