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Ausgabe 19
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100 Seiten bitter nötige Kritik
Buchrezension "Jugendgewalt" von Freerk Huisken
Über das "Phänomen Jugendgewalt" streiten sich seit
Jahren die Pädagogengemüter. Für die einen steht fest, was
sie schon immer gewußt haben: die antiautoritäre Erziehung ist
schuld. Kinder brauchen schließlich eine starke Hand, und wenn ihnen
diese "verweigert" wird, flippen sie halt aus wie man sieht.
Die anderen sind überzeugt, daß Kinder, die im Fernsehen Gewalt
sehen, nichts besseres zu tun haben, als dem nächsten Schwächeren
eins reinzuwürgen, den Lehrer zu erpressen oder Kalaschnikows auf
dem Schulhof zu verkaufen (wie es z.B. in meiner Schule vorgekommen ist).
Basieren tun diese Diskussionen auf Aggressionstheorien wie beispielsweise
der "Triebtheorie" Sigmund Freuds: das Böse tief in uns
usw. Grundsätzlich ist zu sagen, daß der Gewaltausbruch bei
jungen Menschen logischerweise nur daher kommen kann, daß ihnen zu
wenig Gewalt angetan wird. Her muß daher eine Erziehung, die pädagogische
Grenzen aufzeigt (wie z.B. Fernsehverbote). Stolz verkündet der Berliner
Kurier am 2.7.96 in der Rubrik "Tips & Trends" ein "Kinderschutz-Programm"
der Fernsehfirma Grundig, das Sendungen nur nach Eingeben einer Geheimzahl
ausstrahlt, wenn sie nicht mit dem Signal "jugendfrei" versehen
sind. Aber wir reden ja hier nicht über Gewalt an Kindern, sondern
von ihnen.
Drei Kapitel benötigt Freerk Huisken, um die derzeitige Diskussion
und ihre "Argumente" blaß erscheinen zu lassen.
Sachverhalt: Weder die Gewalt in den Medien noch das Vorbild der "Ellbogengesellschaft"
verdirbt die Jugend. Beide Theorien verkünden einen "Automatismus
der Imitation", die "Unterscheidung zwischen Tatgründen
und Anregungen zur Tatausführung" scheinen diesen Theorien
fremd zu sein: "Kein Mensch ahmt ein Verhalten nur deswegen nach,
weil er dieses Verhalten vorfindet." Bei den vorhandenen Fehlurteilen
wird "jeder Wille zur Tat, jedes - wie falsch auch immer begründete
- bewußte Motiv" herausgekürzt. Schon gar die nicht
selten vernehmbare Theorie, den Jugendlichen fehle es nur an Selbstbewußtsein,
ruft den kritischen Geist des Autors auf den Plan: Gerade das sei es, was
den Gewalttätigen nicht fehle. Im Gegenteil: Selbstbewußtsein
wird (nicht nur) von der Pädagogik zum Kult erhoben. Gemeint ist aber
nicht Selbstbestimmung, sondern Selbstdisziplin: "Es geht um die
Einübung einer Psycho-Technik, die Schüler dazu befähigen
soll, zwischen ihren Willen und seiner Äußerung eine Art Wattepolster
einzuschieben, das sich Selbstbeherrschung nennt." Das nennt Huisken
"die bewußte Entfernung des Verstandes aus der Erziehung"
oder auch "Wertepädagogik".
Dem zugrunde liegt eine Theorie, die den Menschen eine Eigenschaft zur
Bösartigkeit oder Gewalttätigkeit unterstellt, die "weder
für sich nachgewiesen noch korrekt erschlossen worden ist"
wie Huisken angibt und kritisiert: "An keiner Stelle wird die Möglichkeit
in Erwägung gezogen, daß die inkriminierten Heranwachsenden
eine ganze Ansammlung falscher Gedanken über sich und die Welt im
Kopf haben."
"Warum werden Kids so radikal?" Zwei Unterkapitel dieser
Frage sind Familie und Schule. Institutionen, die sich vor Huiskens Kritik
ebenfalls nicht drücken können. Er spricht von "Erziehungsgewalt"
und kritisiert: "Als >intakt< gilt jene Familie, in der die
unbedingte Nichtanerkennung der kindlichen Person als gewohnheitsmäßige
Selbstverständlichkeit gilt." Die Schule stellt für
Huisken eine "Pflichtveranstaltung" dar: "Die Freiheit,
die dem Schüler eingeräumt wird, liegt in der Entscheidung über
sein Pausenbrot und über das Ausmaß an Anstrengung, mit dem
er sich den Unterrichtspflichten widmet."
Das Buch "Jugendgewalt - Der Kult des Selbstbewußtseins und
seine unerwünschten Früchtchen" ist eine genüßlich-kritische
Lektüre, 100 Seiten bitter nötige - aber destruktive - Kritik.
Aber hier weiß Huisken eine Antwort: "Der Imperativ der konstruktiven
Kritik erweist sich als eine Meßlatte, die die Kritik nicht auf ihre
Stimmigkeit, sondern auf ihre Verträglichkeit mit zugelassenen Reformen
überprüft." Und: "Aus der Kritik erwächst
dem Kritiker keinerlei Verpflichtungen, schon gar nicht die zur Lieferung
einer Alternative."
Diese Alternative liefern schon lange diejenigen, die die Gleichberechtigung
fordern, gegen Erziehung und Schulpflicht eintreten.
Benjamin Kiesewetter
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