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Ausgabe 20

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Eine Mischung aus Politthriller, Frauen-Roman und moderner Liebesgeschichte:
Gioconda Bellis Roman:"Bewohnte Frau"
Lavinia ist eine selbstbewußte, emanzipierte Feministin, die nach
ihrem Studium in Europa in ihre alte lateinamerikanische Heimat zurückkehrt.
Sie hat das Haus ihrer verstorbenen Tante Inés geerbt, bekam auch
sofort einen gutbezahlten Job als Architektin und mit Felipe, einem Arbeitskollegen,
fängt sie eine recht harmonische Beziehung an.
Der Orangenbaum in ihrem Garten blüht und verströmt seinen eindringlichen
Duft, er bezaubert Lavinia. Sie macht es sich zur Gewohnheit, dem Baum
von ihren Sorgen zu erzählen: wo Felipe so lange bleibt, weshalb er
nach kurzen Telefonaten immer so überstürzt verschwindet? Der
Orangenbaum heißt Itzá, Tautropfen, und war eine mutige Indianerin,
die an der Seite ihres Geliebten Yarince gegen die spanischen Invasoren
gekämpft hat. Hinterrücks wurde sie beim Kampfe erschossen, um
als Baum wiedergeboren zu werden. Itzá dringt durch den Saft ihrer
Früchte in Lavinia ein, lernt ihr Seelenleben verstehen und macht
ihr innerlich Mut. Doch die aristokratische Architektin schenkt dem stillen
Baum keine Beachtung, sie ist ganz mit ihrer eigenen Rebellion beschäftigt:
sie will gleichberechtigt mit den Männern, den Machos, sein, unabhängig
vom Elternhaus, frei und stark. "Die Einsamkeit zu beherrschen ist
ihre größte Errungenschaft."
Als Felipe ihr gesteht, das er Mitglied der Nationalen Befreiungsbewegung
ist, überkommen sie Zweifel an ihrer Position. Reicht es, sich bloß
für seine eigenen Interessen einzusetzen? "Sie fragte sich, ob
sie dem Leben nicht mehr schuldete als die persönliche Unabhängigkeit."
Jedoch das Programm der Bewegung erscheint ihr zu illusorisch, zu weit
sind die Ziele, wie z. B. Alphabetisierung, kostenlose, menschenwürdige
Gesundheitsversorgung für alle, Wohnraum, Landreform, Emanzipation
der Frau, Ende der Korruption und vor allem ein Ende der Diktatur, von
der derzeitigen Situation entfernt. Sie zweifelt und wird dabei gnadenlos
mit sich selbst konfrontiert; sie muß erkennen, wie oberflächlich
die prunkvolle Welt ihrer reichen Freunde doch ist. Verwirrt und einsam
irrt sie zwischen Arm und Reich hin und her. An keinem Ufer wird sie noch
richtig akzeptiert: für ihre wohlhabenden Freunde ist sie die kleine
"Flatterhafte", die einen Revolution-Tick hat und für die
Bewohner der Armenviertel, mit denen sie sich solidarisieren möchte,
bleibt sie die reiche, nichts verstehende Lady.
Nach vielem Nachdenken bezwingt sie ihre Angst und tritt der Gruppe bei.
Doch eigentlich beginnt damit erst die richtige Handlung des Buches...
Gioconda Belli hat mit ihrem Roman "Bewohnte Frau" ein Meisterwerk
erschaffen. Die in Managua geborene Schriftstellerin hat es verstanden,
die gesamte Geschichte Nicaraguas in eine spannende Erzählung zu packen.
Die unterschiedlichen Situationen der kämpfenden Indianer, die aus
den Schilderungen Itzás hervorgehen, und der Guerillas, die gegen
das diktatorische Regime ihres Landes kämpfen, zeigen Parallelen auf.
Der Feind ist groß und es erscheint unmöglich, ihn zu bezwingen,
doch keiner gibt auf. "Das Leben erneuert sich ständig selbst."
Die in dem Buch beschriebene Stadt Faguas weist sehr viele Ähnlichkeiten
mit Managua auf. Wie typisch sind doch die alten Badelatschen an den Füßen
der Chicos, die grellen Neonröhren überall, die Wellblechdächer
in den ärmeren Vierteln, das Geschrei der Kinder, die Waren verkaufen:
"Tortillaaas! Tortillas!" oder "jene zwanghafte Neigung
zum Verführen, wie sie lateinamerikanischen Männern so eigen
ist"!
Ein wenig ungeschickt erscheinen mir die feministischen Ansichten, die
Lavinia oft recht widersprüchlich zum Besten gibt. Auf der einen Seite
hat sie "keinerlei Gewissensbisse, die tausendjährigen Waffen
der Frau zu gebrauchen, die Wirkung auszunutzen, die bei den Männern
hochglanzpolierte Oberflächen erzeugten; das war nicht ihre Schuld,
sondern ihr Erbe." Auf der anderen Seite beschwert sie sich darüber,
daß sie an einem architektonischen Bauprojekt nicht zur Leiterin
ernannt wird, da sie gegenüber Männern nicht genügend Autorität
besitze.
Mit viel Liebe beschreibt Gioconda Belli ganz nebenbei prägnante Merkmale
Nicaraguas, die den Charakter ihres Landes prägen.
Das Leben Lavinias weist mit ihrem Ähnlichkeiten auf, z.B. haben beide
Frauen in Europa studiert oder für die Gerechtigkeit gekämpft
(Gioconda Belli war in der FSLN gegen die Somoza-Diktatur tätig).
Ich jedenfalls liebe dieses revolutionäre Buch und könnte mir
gut vorstellen, daß es zum Kultroman aller Nicaragua-Liebhaber wird.
Sue Hermenau
dtv Verlag, Gioconda Belli, "Bewohnte Frau", 12.90 DM
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